Undisciplinary Learning – Stadt

08/09/2016 — 19/11/2016

Sauna für Arbeitslose, 2016, Photo: Emma Haugh

Sauna für Arbeitslose, 2016, Photo: Emma Haugh

Trümmerberg Kilimanjaro, Kioskkultur, 2016, Photo: Emma Haugh

Trümmerberg Kilimanjaro, Kioskkultur, 2016, Photo: Emma Haugh

..Über die Pflugstrasse, Gespräche und Performances, 2016, Photo: Emma Haugh

..Über die Pflugstrasse, Gespräche und Performances, 2016, Photo: Emma Haugh

..Über die Pflugstrasse, Gespräche und Performances, 2016, Photo: Emma Haugh

...in der Gartenkolonie, 2016, Photo: Emma Haugh

...in der Gartenkolonie, 2016, Photo: Emma Haugh

Eine Arbeiterin wird Schriftstellerin, 2016, Photo: Lucrezia Zanardi

1., 2., 3., 8., 15. Oktober 2016

Think of ephemera as trace, the remains, the things that are left, hanging around in the air like a rumor.

José Esteban Muñoz

Undisciplinary Learning: Stadt verbindet Originalschauplätze des Buches, die von Transformationen, Spuren politischer Konflikte oder ephemeren Begegnungen geprägt sind, mit aktuellen emanzipatorischen Topographien. Die ortsspezifischen Performances, Gespräche und Interventionen, die Künstler*innen in Auseinandersetzung mit aktuellen politischen Initiativen, in Solidarisierung mit vergangenen Widerstandsbewegungen oder in Vorausahnung kommender Zusammenschlüsse entwickeln, werden so zu temporären Markierungen auf der Stadtkarte Berlins.

Undisciplinary Learning: Stadt ist ein Programm in Kooperation mit Die Ästhetik des Widerstands. Peter Weiss 100. Ein Festival von HAU – Hebbel am Ufer. Sauna für Arbeitslose wird unterstützt vom Saunabad Rykestraße. Eine Arbeiterin wird Schriftstellerin. MASCH, Agitprop, Margarete Steffin wird unterstützt von Die Linke. Trümmerberg Kilimanjaro wird unterstützt von den Museen Tempelhof-Schöneberg.

 

Trümmerberg Kilimanjaro Kioskkultur – Dekoloniale Archivtour
1. Oktober, 19 h

Im Rahmen der Ausstellung TRÜMMERBERG KILIMANJARO untersucht Kioskkultur als mobiler Geschichtskiosk die kolonialen Trümmer aus denen sich die wirtschaftliche und politische Identität Berlins seit der Jahrhundertwende speiste. In ihrem fortlaufenden Projekt Squat Monument gehen Nathalie Anguezomo Mba Bikoro and Anaïs Héraud-Louisadat mit den Erfahrungen der Menschen um, deren Körper und Stimmen im Laufe der Zeit unsichtbar gemacht worden sind und besetzen ausgewählte Schauplätze in Tempelhof als Denkmäler kolonialer Erinnerung neu. Im Verlauf des sich mit Interventionen, Filminstallationen, Workshops und Performances durch den Stadtraum bewegenden Archivs verbinden sich die von Handel und Filmproduktion des frühen 20. Jahrhunderts hinterlassenen Spuren zu einer dekoniale Landschaft.
Inspiriert ist die Tour vom Begriff der ‚économie de la débrouillardise‘, der im frankophonen Afrika und der Karibik eine auf Erfindungsreichtum, Improvisation und Selbstversorgung beruhende Form des Wirtschaftens ist. Der von dem Journalisten Robert Neuwirth neu verwandte Begriff zieht Parallelen zu Widerstandsbewegungen im ost- und westafrikanischen Kino der 60er und 70er Jahre. In den 50er Jahren waren fahrende Kinos unterwegs, die propagandistische Kolonialfilme zeigten. Später nutzten antikoloniale Oppositionsbewegungen insbesondere in Namibia dieses Format als dekoloniale Methode der Unabhängigkeit, mit der sie in den ländlichen Gebieten der ehemaligen deutschen und portugiesischen Kolonien ihre eigenen Filme zeigten. Durch die Dekonstruktion anthropologischer Traditionen und die Rückeroberung gemeinschaftlicher Räume sollte dies die politische und wirtschaftliche Landschaft verändern. Kiosk Culture untersucht diese Strategie des ‚System D’ in den städtischen Migrationsräumen von Tempelhof. Als bewegliches Versammlungszentrum und Antithese zum Museum vereint der Kiosk das Wissen, die Erinnerungen und Menschen lokaler Gemeinschaften, um unsere Beziehung zu unserer Umgebung zu verändern.
Die Kioskultur dekoloniale Archivtour nimmt ihren Ausgang am 30. September im Museum Tempelhof anlässlich der Finissage der Ausstellung Squat Monument: Einführung in einem dekoloniale Landkarte. Basierend auf ihren Recherchen zur Marienhöhe im Zusammenhang mit der Produktion propagandistischer Kolonialfilme der dort ansässigen UFA Filmstudios haben die beiden Künstlerinnen von der Geschichte ausgelöschte Narrative in die Dauerausstellung des Museums zurück geführt. Nach einer Performance wird eine Prozession von Objekten und Kunstwerken in den Kiosktransporter überführt.
Am 1. Oktober wandert das bewegliche Archiv dann durch die Nachbarschaft und lädt Besucher*innen und Passant*innen zu Gesprächen mit den Künstlerinnen und kollektiven Aktionen an 3 Stationen ein. Die erste Station sind die Sarotti-Höfe, eine Verkaufsstelle der 1852 gegründeten Berliner Schokoladenfabrik Sarotti, die seit 1918 ihre Produkte unter dem Logo des Schwarzen Mohren vertrieb. Von Sarotti geht es zum Tempelhofer Flughafen, der zwischen 1937 bis 1941 errichtet wurde und in dem während des Nationalsozialismus Zwangsarbeiter*innen den Flugzeug- und Waffenbau der dort angesiedelten Unternehmen sicherten. Auf dem Feld vor dem ehemaligen Flughafengebäude bieten die Künstlerinnen einen Drachenworkshop an, der auf ihrer Auseinandersetzung mit dekolonialen Feminist*innen im antikolonialen Widerstand, organisiert zwischen Berlin, Namibia und Kamerun, beruht. Die Tour endet in ihrer Ausstellung Trümmerberg Kilimanjaro als Teil des Projekts Undisciplinary Learning. Remapping The Aesthetics of Resistance.

 

… über die Pflugstrasse
2. Oktober, 14–17 h

Gespräche und Performances mit EXIT Deutschland e.V., Alicia Frankovich, Achim Lengerer im Rahmen des HAU-Festivals Die Ästhetik des Widerstands. Peter Weiss 100. Gespräche in deutscher Sprache mit Flüsterübersetzung ins Englische

Treffpunkt 14 h: Pflugstrasse 7

Einst Schauplatz gewaltvoller Straßenkämpfe zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten, ist die Pflugstraße den Protagonisten der Ästhetik des Widerstands sowohl ein Ort politischen Lernens wie auch intimer Verständigung. Mit einer Performance von Alicia Frankovich, einer öffentlichen Leseprobe von Achim Lengerer und Gesprächen mit EXIT Deutschland befragt das ortspezifische Programm die Aktualität des Widerstandsbegriffs aus künstlerischer und aktivistischer Sicht.
Die Künstlerin Alicia Frankovich verhandelt in ihrer anlässlich von Undisciplinary Learning entwickelten Performance Shine Theory gesellschaftliche Kräfteverhältnisse und die Entwicklung staatlicher sowie individueller (Selbst-)Verteidigungstechniken. In Auseinandersetzung mit Ausdrucksformen feministischen Widerstands in gegenwärtigen urbanen Umfeldern und einer posthumanen und queeren Perspektive geht es in Shine Theory um die ermächtigte Subjektivität und Unterschiedlichkeit von Körpern innerhalb von kollektiven Konstellationen. Aus unterschiedlichen Quellen und Zeitlichkeiten versammelt die auf der Straße angesiedelte Performance Gesten, Situationen und Beziehungen in einer lebenden Skulptur. Die Gruppe professioneller und nicht-professioneller Tänzer*innen formiert sich in sequenziellen choreografischen Passagen zu immer neuen Zusammenschlüssen und lotet in gewagten körperlicher Behauptungen pluralistische Modi des sich zueinander Verhaltens aus. In Interaktion mit den Verfasstheiten der Teilnehmer*innen verschränken sich urbane Sedimente erlebter Geschichte, Gruppenstrategien für positiven Widerstand und Selbstbehauptung und verkörperte Vorstellungen zukünftiger Möglichkeiten des Miteinander Seins in einem Netz physischer Beziehungen.
In einer neuen ortspezifischen Weiterentwicklung seines Langzeitprojekts Proben zu Peter Weiss \ The Trotsky Rehearsals lädt Achim Lengerer das Publikum ein, sich mit der politischen Wirkungs-und Funktionsweisen von Sprache und Text auseinanderzusetzen. Neben Materialen aus Lengerers Recherchen zu Weiss’ Theaterstück Trotzki im Exil (1970), dessen literarisch-politische Reaktionen innerhalb der verschiedenen Linken in beiden Teilen Deutschlands Weiss zum Schreiben der Ästhetik des Widerstands führten, geht die „Öffentliche Leseprobe“ mit Texten von Aussteiger*innen aus der neofaschistischen Szene aus dem Archiv von Exit Deutschland um. Lengers Öffentliche Leseproben sind Anlass für eine kollektive, performative Praxis der Annäherung an Fragmente und Politiken, die auf linke Lesegruppen der Ästhetik des Widerstands verweist. In der Pflugstrasse wird auch der 1981 als Radiofeature entstandene Text Von der Zärtlichkeit menschlichen Lernens von der Härte menschlichen Hoffens von Christian Geissler, der in jener Zeit mit den Inhaftierten der RAF einen Briefaustausch zur Ästhetik des Widerstands führte, zur Lektüre und Diskussion vorgeschlagen.
EXIT Deutschland ist eine 2000 in Berlin gegründete Initiative, die Menschen hilft, die mit dem Rechtsextremismus brechen und sich ein neues Leben aufbauen wollen Ausgehend von Werten wie persönlicher Freiheit und Würde setzen sich die Mitarbeiter*innen mit der Vorstellungswelt und dem Verhalten von Rechtsextremist*innen auseinander. EXIT-Deutschland arbeitet politisch und fachlich überparteilich und unabhängig von staatlichen Stellen und Polizei, Verfassungsschutz und Justiz. Im Gespräch stellt Fabian Wichmann die Arbeit von EXIT Deutschland vor und gibt Einblick in die Weltsicht ehemaliger Rechtsextremist*innen, sowie in die Schwierigkeiten, die mit einem Ausstieg aus der rechtsextremen Szene verbunden sind.

 

Sauna für Arbeitslose, Frida Klingberg
3. Oktober, 18–21 h

Sauna für Arbeitslose stellt einen Raum her für den Austausch von Arbeitslosen über ihre Erfahrungen mit den Auswirkungen der Ideologie von Arbeit auf soziale und politische Umfelder. Für die anlässlich von Undisciplinary Learning produzierte Berliner Episode des fortlaufenden Projekts stellte Frida Klingberg im September 2016 wurden zwei Gruppen von je drei arbeitslosen Personen an, während einer gemeinsamen Saunasitzung zu schwitzen und ihr aus der Arbeitslosigkeit gesammeltes Wissen über die Gesellschaft zu teilen. Die Aufnahmen ihrer intellektuellen und körperlichen Arbeit – Gespräche sowie in Handtüchern gesammelter Schweiß –überträgt Klingberg in eine ortsspezifische Installationen, die bis zum 19. November in der Sauna zu erleben ist.

EXZERPT AUS EINEM DER GESPRÄCHE AM 26. SEPTEMBER 2016:

E: Ich wollte Hartz 4 nicht beantragen, um keiner von den Sozialschmarotzern zu sein.
I: Hilfe annehmen ist stigmatisiert. In der Schule beginnt es, dass wir nicht um Hilfe bitten sollen, sondern alles alleine schaffen. Manche zerbrechen daran.
A: Ich bin in meinem letzten Arbeitsjahr krank geworden und es war schwer für mich, auf Arbeit zu gehen, denn du musst Powerfrau sein, superschöne Haare haben und sagen: Ja, heute mach’ ich alles. Du darfst nicht als Mensch auf Arbeit gehen, sondern du musst als Avatar deiner selbst deinen Arbeitsplatz betreten. Mit der Arbeitslosigkeit hatte ich zum ersten Mal eine Auszeit und habe gelernt, dass dieses ganze System irgendwie falsch ist. Wir brauchen diese 40-Stunden-Arbeitswoche nicht.
I: Bei mir gibt jetzt das Kind den Tagesrhythmus vor. Um halb acht beginnt der Tag, um neun sind wir in der Kita und danach beginnt für mich eine Zeit des Selbststudiums, des freien Lernens – im Internet, in Büchern und mit Menschen. Es ist auch eine Zeit, sich selbst Aufgaben zu suchen und ohne Geld Dinge zu erschaffen. Ich gehe Lebensmittel retten bei Supermärkten. Food Sharing heißt das. Ich geh auch Containern, weil ich einen Schlüssel für fünf Müllplätze habe in der Gegend und erweitere so meinen Hausstand. Das ist etwas, worin mich die Arbeitslosigkeit bereichert hat, weil ich gemerkt habe, wie wenig Konsum eigentlich nötig ist, um glücklich zu sein.
E: Ich verbringe den ganzen Tag damit, zu lernen, denn ich hab Zeit, aufmerksam zu sein. Ich gehe auch viel zu irgendwelchen Nachbar*innen, mit denen quatsche ich ein bisschen. Mehr als die Hälfte der Bewohner*innen in meinem Haus sind auch Menschen mit Schwerbehinderungen, die in der Behindertenwerkstatt gearbeitet haben. Die meisten wollen aber ihr eigenes Ding machen und das machen wir halt. Ich entrümple zum Beispiel den Müll für jemanden und kriege dafür ein Mittagessen.
A: Ich promoviere, aber unbezahlt, was mich sehr ärgert und demotiviert. Ich habe das nur für den Lebenslauf gemacht.
I: Im Lebenslauf gelten nur zwei Dinge: Arbeitszeiten und Bildungszeiten. Dass es nicht darum geht für den Lebenslauf zu leben, sondern zu leben, war für mich eine der wichtigsten Erkenntnisse. In jedem Job, den ich vom Jobcenter angeboten bekomme, finde ich ethisch und moralisch Verwerfliches. Zum Beispiel, dass ressourcenverschwendend umgegangen wird. Ich möchte darin nicht mitwirken. Überall wo Profit entsteht, wird ausgebeutet.
E: Ich bin der Meinung, dass das Fairste wäre, wenn ein bedingungsloses Grundeinkommen Sachen wie Krankenversicherung und Miete sichern würde, und du dich in die Welt einbringen könntest, ohne damit Geld verdienen zu müssen.
A: Ich muss einen Job finden, denn sonst muss ich Deutschland verlassen, obwohl ich keinerlei Unterstützung beantragt habe. Und nicht irgendeinen Job, ich muss pro Jahr mindestens 38.000 Euro verdienen. Vorher habe ich für eine Firma im Auftrag der Bundesregierung gearbeitet und das war gut – bei der Ausländerbehörde, beim Bürgeramt, auch im Freundeskreis. Jetzt werde ich gefragt, was ich hier eigentlich mache.
I: Arbeit als Legitimation da sein zu dürfen.
A: Ja, ich darf nur als arbeitende oder verheiratete Frau hierbleiben. Wenn es nur eine persönliche Sache wäre, würde ich vielleicht anders darüber denken, aber es geht um Rechte und auch darum, was das für die Zukunft anderer bedeutet. Ich habe einen sehr konservativen Hintergrund verlassen und sehr gekämpft, überhaupt in Deutschland zu sein und darum, als selbständige Frau zu leben, unverheiratet, und mein eigenes Geld zu verdienen. Dass das geht, wollte ich auch anderen Frauen zeigen. Dass ich hier nach Jahren des selbstfinanzierten Studiums keinen bezahlten Job finden kann in meinem Bereich, is a blow.
A: Seit meiner Arbeitslosigkeit bin ich spiritueller geworden. Das ist eins der guten Dinge der Arbeitslosigkeit: Du fühlst dich freier. Ich bin viel einverstandener damit, wo ich bin im Universum. Hattet ihr ähnliche Erfahrungen?
I: Ich habe die Feststellung gemacht, dass erstaunliche Dinge aufsteigen, wenn die Zeit nicht ausgefüllt ist bis zum Letzten. Ich habe Talente, die überdeckt waren vom Berufsleben. Zum Beispiel liebe ich es heute, Fahrräder zu reparieren und habe festgestellt, dass den Vollzeit arbeitenden Leuten in meinem Umfeld die Zeit dazu fehlt. Das ist für mich auch eine Möglichkeit, etwas geben zu können, obwohl ich gesellschaftlich ganz unten bin.
E: Ich finde es interessant, was du sagtest, dass trotzdem man nichts zu tun hat, man was macht und Teil der Welt ist. Ich hab von vielen Leuten, die sich als festangestelltes Leistungsstück in der Leistungsgesellschaft sehen, immer nur Spott gehört.
A: Bei mir ist es komisch, dass total viele Leute in meinem Umfeld immer so überrascht reagieren, dass ich noch keinen Job habe. Vielleicht bin ich selber Schuld, aber ich will nicht im Marketing oder im Kommerz arbeiten. Dafür habe ich nicht Umwelt studiert. Dieses „Was du hast immer noch keinen Job?“ zeigt ihre Erwartungen an sich selbst und an die Gesellschaft. Es ist wie, als wäre man ewig Single.
I: Ja, ich hab letztens einen Job angefangen, aber er war nicht der Richtige für mich.
Link zu Soundcloud
Produktion: Kordula Fritze-Srbic; Schnitt und künstlerische Assistenz: Eva Storms
Dank an alle Teilnehmer*innen und Sandra Wollgast sowie alle Mitarbeiter*innen des Saunabads
Sauna für Arbeitslose fand statt mit freundlicher Hilfe des Saunabades Rykestraße. Frida Klingberg wurde unterstützt durch IASPIS.

 

..in der Gartenkolonie
8. Oktober, 14–17 h

Performance und Ortbegehung mit Hans Coppi Jr, (VVN-BdA), Naomi Hennig und Lerato Shadi im Rahmen des HAU-Festivals Die Ästhetik des Widerstands. Peter Weiss 100.
 Gespräche in deutscher Sprache mit Flüsterübersetzung ins Englische
Treffpunkt 14 h: Schwerbelastungskörper, General-Pape-Straße 34a
Zu den vielen Schauplätzen der Ästhetik des Widerstands zählt auch eine Berliner Kleingartenlaube, die als Versteck und konspirativer Treffpunkt für illegale Widerstandsaktivitäten gegen das NS-Regime dient. Undisciplinary Learning verknüpft die historischen Spuren der Gartenkolonie – von Arbeiter*innen- und Erwerbslosenselbstversorgung, antifaschistischem Widerstand und deutschem Kolonialismus – mit kritischer Wissensproduktion der Gegenwart:
Das Einzugsgebiet um den Bahnhof Südkreuz wird in dem ortsspezifischen Programm in seiner historischen Vielschichtigkeit entlang architektonischer Figurationen von Macht, Unterdrückung und Widerstand befragt. Im Zentrum der gedächtnispolitischen und künstlerischen Auseinandersetzung stehen Orte, die geteilte Erinnerungen sichtbar machen, von alltäglichen Überlebenskämpfen und von politischem wie künstlerischem Aufbegehren erzählen. Was ins Auge fällt, ist die paradox anmutende Nähe von Architekturen, in denen sich die Nation gewaltvoll monumentalisiert und in das Gedächtnis der Stadt einschreibt, umschlossen von der semipermanenten Siedlungsbauweise der Kleingartenanlagen. In den urbanen Gartenkolonien, die etwa zeitgleich zu den deutschen Kolonialbestrebungen in Afrika entstanden, sind die Geschichte und Gegenwart von Eigenanbau und Kleinfamilie, Widerstand und alternativen Gesellschaftskonzepten, Autonomie und Deutschtümelei gleichermaßen präsent.
Mit Lerato Shadis mehrstündiger, prozessualer Performance Hema: Berlin laufen am Schwerbelastungskörper in der General-Pape-Straße der Beginn und das Ende des Rundgangs zusammen. Das architektonische Relikt des NS-Regimes, welches das südliche Ende der urbanen Achse der von Hitler geplanten „Welthauptstadt Germania“ im heutigen Berlin Tempelhof markiert und konserviert, bleibt stumm zu der Frage nach den in ihm gefangenen Lebenskräften der französischen Zwangsarbeiter*innen, die 1941 an dem Bau der Vermessungsarchitektur beteiligt waren. Die südafrikanische Künstlerin Lerato Shadi verkörpert in ihrer Performance jene Widerstandstaktiken, die in dominante, eindimensionale Geschichtsnarrative intervenieren, um die Abwesenheit und das Weiterleben ungehörter Stimmen zu repräsentieren. Das Wissen um Figuren des Protests und der Unterdrückung verlagert sie aus ihrem Körper hinein in Handlungen mit fragilem und doch beständigem Atem.
In einer Ortsbegehung zu konkreten Schauplätzen der ehemaligen Gartenkolonie Papestraße, rekonstruiert die Künstlerin Naomi Hennig vergessene Geschichten in ihrer Verwobenheit mit der Berliner Stadtgeschichte. Im Dialog mit dem Historiker und Zeitzeugen Hans Coppi Jr. (Sohn des in der Ästhetik des Widerstands porträtierten Hans Coppi und Vorsitzender der VVN-BdA, einer überparteilichen antifaschistischen Organisation von Angehörigen Verfolgter des Naziregimes  und Gegner*innen von Neonazismus und Rassismus) nähert sich Naomi Hennig dem politischen und künstlerischen Wirken Kurt Schumachers. Der kommunistische Widerstandskämpfer, ebenso wie seine Frau, die Grafikerin Elisabeth Schumacher und seine Freundin, die Tänzerin und Bildhauerin Oda Schottmüller, gehörten einem Netzwerk mit über 150 Beteiligten aus unterschiedlichen Berliner Freundes- und Widerstandskreisen an. Besser bekannt ist es unter der Gestapo-Bezeichnung ‚Rote Kapelle‘, auf die der 3. Band der Ästhetik des Widerstands Bezug nimmt. Entlang des Ortes, an dem die Wohnung und das selbst gezimmerte Atelier des Bildhauers Kurt Schumacher am Rand der Gartenkolonie stand, wird die Tour anhand ausgewählter Texte, Bilder und Erzählungen an ihre künstlerische Arbeiten, ihr Leben und Sterben erinnern.
Die Tour führt auch zum heutigen Gedenkort Papestrasse, dem einzigen historischen Ort des frühen NS-Terrors in Berlin, in welchem sich noch Spuren aus dem Jahr 1933 finden lassen. In dem ehemaligen SA-Gefängnis wurden Hunderte Nazi-Gegner weggesperrt und misshandelt.
Das Ende der Tour führt uns schließlich zurück zu Lerato Shadis Performance am Schwerbelastungskörper.

 

Eine Arbeiterin wird Schriftstellerin. MASCH, Agitprop, Margarete Steffin
15. Oktober 2016 19 h
Ort: Rosa-Luxemburg-Saal, Karl-Liebknecht-Haus
Kleine Alexanderstr. 28, 10178 Berlin – Mitte
Eintritt frei

Als Teil des an Originalschauplätze der Ästhetik des Widerstands in der Berliner Stadtlandschaft führenden Programms Undisciplinary Learning. Remapping the Aesthetics of Resistance. STADT veranstalten die KünstlerInnen Rena Rädle & Vladan Jeremić und Ina Wudtke eine Lesung von Texten der Arbeiterschriftstellerin Margarete Steffin im Karl-Liebknecht-Haus. Peter Weiss beschreibt in seinem Roman Die Ästhetik des Widerstands Arbeiter*innenschulen in denen junge Arbeiter*innen zum ersten Mal Kunst und Literatur kennenlernten und selber Autor*innen oder Künstler*innen wurden. Margarete Steffin war vor 1933 Teil von Arbeiter*innensprechchören und Agitproptruppen und schrieb auch Songtexte und Gedichte zur Agitation. Steffin lernte in der Marxistischen Arbeiterschule (MASCH), die im Karl-Liebknecht-Haus gegründet wurde, Bertolt Brecht kennen. Margarete Steffin wurde Brechts engste Mitarbeiterin in den Jahren 1933 bis zu ihrem Tod 1941. Sie hatte im Schreibkollektiv von Brecht die Aufgabe seine Texte in „Arbeitersprache“ zu „übersetzen“. Brecht und Steffin schrieben die bedeutendsten Texte des deutschen Widerstands gegen den Faschismus im dänischen Exil.
Mit ihren disziplinübergreifenden Forschungen und Interventionen, Texten, Parolen, Zeichnungen, Videos und öffentlichen Aktionen thematisieren Rena Rädle und Vladan Jeremić gesellschaftliche Widersprüche und untersuchen die Potenziale emanzipatorischer Politik. Ina Wudtke hinterfragt in ihrer künstlerischen Arbeit und als aktivistische Kulturproduzentin (u.a. im Herausgeberinnenkollektiv des von 1992 bis 2004 erschienenen feministischen Künstler*innenmagazins NEID) hegemoniale Diskurse und versucht Gegenperspektiven zu Themenfeldern wie Identität, Arbeit, Stadt und Wohnen zu stärken.
Am Abend Eine Arbeiterin wird Schriftstellerin. MASCH, Agitprop, Margarete Steffin stellen die Künstler*innen Rena Rädle & Vladan Jeremić und Ina Wudtke neben dem Werk Steffins ihre Arbeitsblätter zum lebenden Bild vor, die sie als Beitrag für die Ausstellung zu Undisciplinary Learning. Remapping the Aesthetics of Resistance in District entwickelt haben. Die kostenlose 16-seitige Zeitung beschäftigt sich mit Agitproptechniken der Arbeiter*innenbewegung in den 20er und 30er Jahren in Deutschland, wozu das in Vergessenheit geratene „Lebende Bild“ gehört. Ursprünglich gehörte das Nachstellen von historischen Szenen zum Unterhaltungsprogramm bei Festveranstaltungen der Aristokratie und des Bürgertums. In der Weimarer Republik radikalisierten kommunistische Agitprop-Truppen das lebende Bild zu einem Mittel des Protests und der direkten Aktion. Die Zeitung zeigt historische „Lebende Bilder“ und suggeriert darüber hinaus Szenarios lebender Bilder für die aktuelle politische Situation.