In den Falten des Vorhangs

30/04/2011 — 08/05/2011

Katrin Connan, Everybody tells the truth, 2011

Actress Sigrun Schneggenburger is reading "Sounds" (1912) by Wassily Kandinsky. Photo: Annika Kahrs

Katharina von Dolffs & Gerrit Frohne-Brinkmann, Hauptschlacht, 2011

Annika Kahrs, Études cliniques ou artistiques, Filmstill, 2007

Gerrit Frohne-Brinkmann, untitled (Ricarda), 2011

Burk Koller, I've Lived Too Long and I've Lived Too Well, 2011

Mit Beiträgen von
Katrin Connan, Katharina von Dolffs, Gerrit Frohne-Brinkmann, Daiga Grantina, Annika Kahrs, Burk Koller, Sigrun Schneggenburger

Die Ausstellung In den Falten des Vorhangs beschäftigt sich mit der Materialität von Gegenständen und dem Sich-Einlassen des Subjekts in materielle Erfahrungen. Inspiriert von Walter Benjamins frühen Kindheitserinnerungen an sein mit einem Vorhang abgedunkeltes, nächtliches Schlaflager und die ‚Mummerehlen’ (Berliner Kindheit um 1900) sowie Wassily Kandinskys Gedicht Der Blick aus dem Zyklus Klänge von 1912 beschäftigen sich sechs Künstler_innen mit der affektiven Sprache der Dinge und produktiven Missverständnissen. Diese Ausstellung rückt das Lebendige, Nicht-Mitteilbare und Magische in der Sprache der Dinge in den Blick. Viele der gezeigten Arbeiten sind künstlerische Experimente, die versuchen, in den Dingen der Umgebung einen auf den Menschen bezogenen Sinn zu erkennen und sie selbst zum Reden zu bringen. Sind die Veränderungen des Maßstabs zwischen mikroskopisch und makroskopisch, zwischen Subjektivität und Objektivität, nicht eine Voraussetzung für die Begegnungen zwischen Räumen, Kontexten, Künstler_innen, Kunst und Betrachter_innen?

Objekte, die mit dem Subjekt durch gemeinsame Verstrickung vereint sind, werden eher als Ereignisse denn als Gegenstände aufgefasst – Ereignisse des Werdens und nicht so sehr des Seins: Wellen.“ (Mieke Bal: Schweben zwischen Gegenstand und Ereignis: Begegnungen mit Lili Dujourie. München 1998. S. 38)

Katrin Connan konzentriert sich auf das Moment der Verwandlung von Oberflächen und Objekten. In Die Leichtfertigen (2011) erzählen die mit leuchtenden Deko-Steinchen versehenen Schuhe von einer durchtanzten Nacht, in der kein Morgen zählt.

Die Arbeit René-Claude Claude-René (2010) deutet einen Faltenrock aus Herrenschlipsen an, der an der Wand hängt wie ein für jedes Geschlecht tragbares Fashion-Item.

Der Arbeit Everybody tells the truth (2011), die an einen Vorhang erinnert, liegt eine Auseinandersetzung mit Inszenierung, Styling und Schmuck zugrunde. Der Latexstoff, die eingenähten Billigperlen und das wenig glamouröse Format des Vorhangs verhindern nicht, dass er von weitem verlockend glänzt und schimmert.

In Kill dead corners (2011) versucht Katrin Connan vergeblich, alle Ecken im Raum durch den Wind einzufangen, weil sich die Falten des Raumes in der drehbaren Silberpappe spiegeln. Da der Ausstellungsraum überwiegend windstill ist, sind die Besucher_innen dazu eingeladen, die Pappe selbst zu bewegen.

Katharina von Dolffs und Gerrit Frohne-Brinkmann haben anlässlich der Ausstellung gemeinsam die Installation Hauptschlacht (2011) realisiert, die den spielerischen Zweikampf zwischen Individuen ins Zentrum rückt. Eine mit gelben Streifen markierte Zone, Holzpaletten, ein Busch, eine Tonne und ein vertrockneter Baum erinnern an einen improvisierten Hinterhof-Spielplatz. Der gegenüberliegende Wall aus Steinen und Geröll visualisiert eine zweite Front. Die Disziplin, in der die Besucher_innen gegeneinander antreten dürfen, heißt Kirschkernspucken über Hindernisse. Die süßen, roten Schattenmorellen, die im Sinne Kandinskys wie Punkte durch den Raum fliegen, erhalten durch Katharina von Dolffs handgeschriebenes „Verzeichnis von taktischen Zeichen und internationalen Symbolen” (2011) eine taktisch-operative Funktion. Diese Installation erklärt die künstlerische Praxis zu einem Ort der Kriegsführung, der Auseinandersetzung um Macht, Positionen und Freiräume in der ästhetischen Erfahrung.

Die Synästhetin (2011), eine mobile Skulptur von Gerrit Frohne-Brinkmann, erfasst die Situation im Raum kopfüber. Sie kann Farben und Formen, die Temperatur, Musik und Gerüche gleichzeitig wahrnehmen. An eine Gallionsfigur am Bugspriet eines Schiffes erinnernd, ist die mit einem Drehmotor und kleinen Wackelaugen versehene Skulptur eine humorvolle Anspielung auf Kandinskys Einsatz für die Synästhesie. Die beständige Drehung und die gelblich-grüne Färbung der Skulptur lassen an Seekrankheit denken, ein metaphorisches Bild, mit dem der Künstler sein Verhältnis zu Kandinskys Thesen ausdrückt.

Frohne-Brinkmann hat mit o. T. (Ricarda) (2011) eine Installation aus drei Elementen geschaffen: ein Sprungbrett, das auf einem Holzscheit montiert ist, und zwei Kabinentische, auf denen jeweils eine Katzenbaumskulptur ruht. Diese Katzenspielplätze sind vergegenständlichte Projektionen menschlicher Bedürfnisse auf das Tier, die der Künstler als Ausgangspunkt für seine Reflexion über skulpturale Formfindung und Material nimmt. Die zwei Design-Kabinentische, die Frohne-Brinkmann in der Kellerei der Malzfabrik vorgefunden hat, wirken ebenso prätentiös und unnütz wie die Katzenbäume. Die Podeste, Farben und Materialien sind Ausdruck habitueller Praktiken, denen durch die Abwesenheit der Katze etwas Totes innewohnt.

Für seine fünfteilige Fotoserie Spunk (2011) hat Gerrit Frohne-Brinkmann sich mit einem Laken als Gespenst verkleidet. Da sich der 15 Jahre alte Polaroidfilm chemisch auflöst, erhalten seine Bilder weiße Flecken und einen gelblichen Schleier, der an okkultistische Fotografien des frühen 20. Jahrhunderts erinnert.

Daiga Grantina zeigt erstmals ihre zwei neuen Videoarbeiten She was und Gare du Nord, die sie während eines Stipendiums im Frühjahr 2011 in Paris produziert hat. Für die Arbeit She was hat sie eine Sequenz aus dem internationalen Sender Fashion TV aufgezeichnet. Auf dem Monitor sieht man lange, schaukelnde Beine, leuchtenden Stoff, Schritte auf dem Catwalk und gebannt schauende Menschen. Das vom Fernseher abgefilmte Material entzieht dem Medialen seine Glaubwürdigkeit, die Farben und die grobkörnigen, stummen Bilder überlassen die Rekonstruktion des Hauptaktes den Betrachter_innen.

In Grantinas Videoarbeit Gare du Nord fängt eine Standkamera die Betriebsamkeit am Pariser Bahnhof aus der Froschperspektive ein. Aus der Bahnhofsarchitektur, dem Licht, den Koffern, Schuhen und Hosenbeinen der Reisenden formt unser Bewusstsein abstrakte, bewegliche Farbflächen.

Annika Kahrs zeigt im Lichthof von District ihr Video Études cliniques ou artistiques (2007), eine Arbeit, in der eine junge Frau typische Posen von während des Fin de siècle an Hysterie erkrankten Frauen nachahmt. Der Hysterie-Spezialist und Kandinsky-Zeitgenosse Jean-Martin Charcot (1825-1893) nahm in der Nervenheilanstalt Hôpital de la Salpêtrière zahlreiche Fotografien von erkrankten Frauen auf, was damals technisch bedingt bis zu 20 Minuten in Anspruch nahm. Annika Kahrs offenbart in ihrer Videoarbeit weniger das Konstruierte dieses Krankheitsbildes, sondern widmet sich vielmehr der Studie des Körpers als eines Mediums. Die Protagonistin ist hochkonzentriert damit beschäftigt, die historischen Posen einzeln nachzustellen, während auf Extras wie Requisiten, Maske, Mimik und Geräusche im Video verzichtet wird.

Die Installation Zeit, Simon, Teleskop (2011) von Annika Kahrs dreht sich um Wünsche und ihren Ursprung in der Kindheit. Drei mit Hörnern versehene Masken aus Porzellan, Abdrücke des Gesichts der Künstlerin im Alter von neun Jahren, liegen auf einem Bügelbrett. Zeit, Simon, Teleskop verweist auf den Prozess der Veränderung des kindlichen Wünschens im Laufe der Adoleszenz und der Moderne. Während „Zeit“ als ein Privileg des reiferen Menschen gilt, repräsentiert „Simon“ die verliebte Schwärmerei eines Mädchens im Teenageralter. Das „Teleskop“ als nüchternes Sternbeobachtungsgerät steht im Kontrast zu den applizierten Hörnern, die den ekstatischen Kult im Schamanismus symbolisieren.

Die konzeptuelle Arbeit I‘ve lived too long and I‘ve lived to well (2011) von Burk Koller dreht sich um den Mythos und die wahren Begebenheiten, die sich um die Luxusfarbe „Elephant‘s Breath“ von Farrow & Ball ranken. Auf einem historistischen Sockel befindet sich, von einer Glasglocke geschützt, eine kleine Dose edler Wandfarbe. Diese Farbe wurde Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt, als die berühmte britische Innenarchitektin Nancy Lancaster (1897-1994) davon erfuhr, dass Menschen, die unter Kopfschmerzen litten, an die heilsame Wirkung von Elefantenatem glauben. Diese aberwitzige Geschichte und der winzige Becher Farbe verweisen darauf, dass dieses Produkt das Ergebnis einer kalkulierten Illusion ist, die sich bis heute hält.

Die Ausstellung, kuratiert von Ulrike Gerhardt, wird im Haus Sassendorf in Bad Sassendorf und in der District gezeigt. Besonderer Dank gilt der Schauspielerin Sigrun Schneggenburger, Susanne Modelsee und dem Dramaturgen Albert von Dolffs.