D’EST: Ghostly Embodiments

25/09/2021 — 21/11/2021

Ieva Balode, Commission (Lettland, 2020, 16mm Film transferiert auf HD Video, 6 Min.)

Tibor Szemző, Invisible Story (Ungarn, 2009, 8mm transferiert auf Video [SD], 27 Min.)

Anya Tsyrlina & Sid Iandovka, Horizōn (Schweiz, Russland, 2019, Farbe, 16mm Film transferiert auf HD Video, 7 Min.)

Josef Dabernig, Zlaté Piesky Rocket Launch (Österreich, 2015, HD Video, s/w, 10 Min.)

Ingel Vaikla, Double Exposure (Belgien, Estland, 2020, HD Video, Stereo Sound, 14 Min.)

D’EST Online Videoscreening

Mit Arbeiten von Ieva Balode, Josef Dabernig, Tibor Szemző, Sid Iandovka und Anya Tsyrlina, Ingel Vaikla

Kuratiert von Ulrike Gerhardt in Zusammenarbeit mit Irina Gheorghe und Nadja Quante

25. September – 21. November 2021

Online unter www.kuenstlerhausbremen.de/ghostlyembodiments

 

„I feel I have returned to a place so familiar, yet have arrived somewhere so alien.“
– Ingel Vaikla

Das Online-Videoscreening-Programm Ghostly Embodiments präsentiert geisterhafte wie auch entfremdende künstlerische Auseinandersetzungen mit den utopischen Rändern und den ins Exil verbannten Sehnsüchten postsozialistischer Gesellschaften. Ausgangspunkt des Screening-Programms bildet das Oeuvre der Künstlerin Irina Gheorghe. In ihren Arbeiten sucht Gheorghe nach einer visuellen und gestischen Sprache für eine fehlende Erfahrung, jedoch bedeutet diese Suche nach einer unbekannten Größe – oder Entität X – eine Un/Möglichkeit, da ihre Kriterien und Methoden so verborgen wie rätselhaft bleiben. Der Prozess der gemeinsamen Annäherung an dieses unscharfe X konfrontiert die Rezipient*innen mit Unlogiken, Ambivalenzen, verdrängten Erfahrungen und Begehren kollektiven Ursprungs, die sonst nur auf einer subliminalen Ebene existieren. Die ausgewählten Arbeiten von Ieva Balode, Josef Dabernig, Tibor Szemző, Sid Iandovka und Anya Tsyrlina und Ingel Vaikla forcieren eine strategische Dezentrierung und Entfremdung, das heißt Betrachtung des eigenen Standorts von einem extremen Außenstandpunkt, etwa aus der fernen Zukunft oder durch die Linse einer nicht-menschlichen Lebensform oder Materialität.

Den Auftakt markiert Ieva Balode mit ihrer Sci-Fi inspirierten Arbeit Commission (2020), die in Georgien ihren Anfang nimmt, wo ein mittelalterlicher Dichter namens Rustaweli ein Epos mit dem Titel Der Recke im Tigerfell (1196–1207) geschrieben hat. Dieses Buch entstand auf Geheiß der Königin Tamar von Georgien und wird in Balodes Videoarbeit zu einer Chiffre für die Neuschreibung der Weltgeschichte als Matriarchat. Anschließend folgt eine Arbeit des ungarischen Komponisten und Künstlers Tibor Szemző mit dem Titel Invisible Story (2009), die auf dem bedeutenden Essayband Unsichtbare Geschichte (ungar. Láthatalan történet, 1943) des 1968 verstorbenen Schriftstellers und Philosophen Béla Hamvas beruht. Tibor Szemző lässt diesen Essay vorlesen und konstelliert Musik und Bilder aus Lehrfilmen zu Sport- und Naturwissenschaften in der DDR, die Hamvas’ poetisch-philosophische Ideen audiovisuell begleiten. Die Videoarbeit Horizōn (2019) der Filmemacher*innen Sid Iandovka und Anya Tsyrlina ist eine Komposition aus Nachrichten-Archivmaterial aus ihrer Heimatstadt in Sibirien und atmosphärischem Sound. Viele eigenartige und spannungsreiche Momente treten ins Bild: Ein unerklärliches metallisches Leuchten sowjetischer Maschinen, Utensilien, Pflanzen und Landschaften und ideologisch aufgeladene Gesten wie die Überreichung eines Blumenstraußes an eine Arbeiterin werden als genuin entfremdende Objekte und Situationen inszeniert. Josef Dabernigs Videoarbeit Zlaté Piesky Rocket Launch (2015) ist ein Déjà-Vu, eine ironische Allegorie auf die verflochtene Bipolarität der Welt, den Kalten Krieg und den Wettlauf ins All: Zwei Jungen im Vorschulalter spielen innerhalb und außerhalb des 70er Jahre Hotels Flóra im Bratislavaer Naherholungsgebiet Zlaté Piesky mit Raketen aus Pappe. Ihre stummen erwachsenen Begleitpersonen sind Teil der ausgebrannten kreativen Klasse der 2010er Jahre. Als hauptamtliche PR-Mitarbeiter*innen editieren sie das propagandistische Text- und Bildmaterial der infantilen Raketentests. Die Arbeit Double Exposure (2020) von Ingel Vaikla bildet den Abschluss des Videoscreening-Programms und zeigt Slawutytsch, eine Stadt im Norden der Ukraine, die 1986–1988 für die evakuierten Arbeiter*innen des Kernkraftwerks Tschernobyl errichtet wurde. Bis im Jahr 2000 der letzte Reaktorblock geschlossen wurde, war die Mehrheit der Anwohner*innen weiterhin in Tschernobyl beschäftigt. Ingel Vaikla richtet ihren Blick auf historische Videoaufnahmen aus dem Stadtarchiv und auf junge Männer, die täglich an unbenutzten Wäschestangen und auf den kosmisch gestalteten Spielplatz-Anlagen dieser letzten sowjetischen Atomstadt trainieren, Hip-Hop hören und inmitten der Postutopie auf den Beginn ihrer Zukunft warten.

Text von Ulrike Gerhardt